DRAWING KAI TEXTBOOK THOUGHTS

Über das Zeichnen.

     


KAI
Kai Jerzö
‘Jerzovskaja’

– Welcome to the here and now –



Philosophen der sprachlosen Welt

…und über den schwarzen Wäldern liegt eine Spur von weissem Schnee

Geschrieben von KAI am 16. Februar 2023

Jedes Kind zeichnet. Wenn man ihm einen Stift in die Hand gibt und Papier vor ihm ausbreitet.

Jedes Kind zeichnet mit Hingabe. Jedes Kind zeichnet mit Ausdauer, mit Bewegung, mit Kraft. Wenn man es lässt. Wenn man es nicht stört dabei. Wenn man ihm die Zeit dazu gibt. Es entdeckt sich dabei spielerisch.

Zeichnen ist Bewegung. Jedes Kind erfährt sich zeichnend als in Bewegung. Als lebendig, als wirksam, als staunend, als forschend und erforschend. Das Kind legt eine Spur die bleibt und wird sich dessen bewusst.

Zeichnen ist Entwicklung. Zeichnen ist Sprache. Zeichnen ist eine Sprache jenseits der Worte. Zeichnen ist eine Art, die Welt zu ertasten, sie zu erkunden und zu begreifen. Zeichnen ist eine Sprache, die all jene verstehen und sprechen können, die sich auf die Ruhe und Bewegung des Zeichnen und der Zeichnung einlassen. Die anwesend sind: Mit Hingabe, mit Zeit, mit offenem Wesen und klarem Geist.

Zeichnen ist Sinnlichkeit. Der Akt des Zeichnens ist eine sinnliche, friedliche, aufbauende und sich selbst wertschätzende Art, sein Inneres und sein Äusseres zu sehen, wahrzunehmen, zu wertschätzen und sinnfrei zu geniessen.

Zeichnen ist Bewegung. Die Bewegung des Atmens. Während des Zeichnens komme ich in Einklang mit meinem Atem, ich beobachte den Atem und werde gleichzeitig ruhig. Ich sehe mich am Leben und staune darüber. Wo Unruhe war, breitet sich tiefe Ruhe aus. Schmerzhafte Gedanken über Vergangenes, angstvolle Gedanken über die Zukunft verlassen meinen Geist, meinen Körper. Die lebendige inspirierende in sich ruhende Realität ist das Hier und Jetzt.

Zeichnen ist innere und äussere Ruhe. Zeichnen mit dem Pinsel und mit Tusche ist Innehalten, Beobachten, Fliessen lassen, ist Meditation und Dialog gleichzeitig. Der Atem und der Pinsel führen mich, die selbständige Bewegung des Atmens und die selbständige Bewegung des mich umgebenden Tages beginnen einander im Wechselspiel zu befruchten.

Das Papier ist mein Gegenüber, der Pinsel ist ein Wesen, hat einen Charakter. Die kohlenschwarze tiefe Tinte und das blütenweisse leichte Licht des Papier begegnen sich, umtanzen einander wie Tag und Nacht.

Schatten und Licht spielen miteinander, bedingen sich gegenseitig. Als Zeichner bin ich anwesend, geniesse den Tanz, agiere als Medium, erfahre, wie die mich umgebende Kraft durch den Pinsel strömt, der zu einem Wesen wird, das mich führt, das mit mir tanzt. Ich trete aus der Begrenzung meines Körpers und beginne, den weiten Raum ausserhalb der menschlichen Wahrnehmung zu begreifen, zu erkunden und zu geniessen.

Zeichnen ist eine Sprache, differenziert und reich, ruhig und sanft und in sich ruhend. Ruhiger und sanfter als Worte. Das Zeichnen lebt durch seinen Schöpfer. Die Zeichnung lebt durch ihren Betrachter. Werde ich als Zeichner zum Betrachter, der Geniessen kann, dann ist Zeichnen ein Fest, ist Zeichnen ein Tanz, ist Zeichnen Meditation.

Das Licht des Tages macht die Zeichnung sichtbar, die Tiefe der Tusche, die Idee der Nacht, die Unendlichkeit des Schwarz macht die Zeichnung fühlbar. Der nächtliche nicht kontrollierbare Traum ermöglicht mir ein vertieftes Verständnis über das Wesen des Tags, über meine Konstruktionen von Wirklichkeit. Das Aussen und das Innen, das Innen und das Aussen sind im Dialog, im wechselseitigen Tanz, Yin und Yang, männlich und weiblich, Ruhe und Bewegung, Aktion und Reaktion, Einatmen und Ausatmen, Schwarz und Weiss. Das eine existiert nicht ohne das andere. Das Aussen tritt über die Netzhaut ins Innere des Hirns, das Innere begint sich schrittweise ein Bild der Welt zu machen. Schrittweise ertasten wir die Welt, schrittweise begreifen wir mit unseren Sinnen die Welt um uns, spiegeln wir im Innen, was im Aussen uns umgibt.

Nehme ich mir als Betrachter Zeit, meditiere ich über einer Zeichnung, so gehe ich in einen Dialog mit meinem Inneren, beginne ich eine Reise ins Ich. Wenn ich die Grenzen meines Hirns und meines Erwachsenseins, dass sich darin zeigt, alles verstehen und deuten und werten zu wollen, überwunden habe, dann ist wahre Begegnung möglich, wahre Begegnung mit mir selbst, wahre Begegnung mit dem anderen, mit der mich umgebenden Welt, die ich tagtäglich neu erschaffe.

Wie die Natur, wie das Flüstern des Waldes, wie das Rauschen der Baumwipfel im Wind, wie die ewig brandenden Wellen des Meeres, so sind die Gedanken, die während des Zeichnens, während des Gehens, während des Denkens kommen und gehen, eine immerwährende Bewegung der Ruhe und des Lichts.

Das Zeichnen und das Betrachten des Gezeichneten ist ein Innehalten, ist ein Dialog mit mir selbst, ist eine friedliche und friedvolle Reise ins Innere, eine Reise durch das Innen ins Aussen.

Zeichnen befreit, Zeichnen zentriert, Zeichnen klärt, Zeichnen bringt Ruhe, Zeichnen kann glücklich machen.

Die Zeit mit Tusche und Pinsel und Papier ist meine Form der kontemplativen Meditation.

Dadurch bekommen meine Schwarzweisszeichnungen und Tuschbilder Tiefe, eine in sich ruhende Qualität. Sie bewegen sich zwischen Licht und Schatten, zwischen Tag und Nacht, ermöglichen Raum für eigene Gedanken, fürs Träumen und für Reflexion.

Zeichner sind Philosophen der sprachlosen Welt, sind Wandler zwischen den Welten, bewegen sich in der Welt jenseits von Sprache. Zeichner sind Betrachter des Inneren, Tagträumer und Nachtwanderer zugleich.

Zeichner wandeln mühelos zwischen Innen und Aussen, verbinden Oben und Unten, tanzen mit Licht und Schatten, lassen sich vom Tag und von der Nacht gleichermassen umarmen und sich von der Sanftheit des Papiers und des Pinsels immer wieder aufs Neue verführen. Jeder Tanz ist neu, jeder Pinselstrich eine Überraschung, jeder Atemzug Heimat.

Zeichner vertrauen der Ruhe und dem Frieden des Papier und dem Wissen, dass mit einem einzigen Pinselstrich, mit einer einzigen Bewegung, sich alles verändern kann.

Kai Jerzö, Utrecht, 16. Februar 2023

Zitieren? Ja, gerne wie folgt:
– Jerzö, Kai (2023) ‘Philosophen der sprachlosen Welt: …und über den schwarzen Wäldern liegt eine Spur von weissem Schnee’. In: Illustration.world-Blog, 2023-02-16. URL: https://illustration.world/kai_2023-02-16_drawing_de/ .

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