DRAWING FRAGMENTS KAI TEXTBOOK THOUGHTS

Der Zeichner.

     


Kai Jerzö – Ideas, Advice, Creation –

Welcome to the here and now.



DER ZEICHNER

Oder: KAI, der Zeichner

Heute spreche ich über eine meiner ältesten und grössten Leidenschaften: Das Zeichnen.

Als Kind will sich der Mensch spüren, als wirkend erfahren. Über die Sinne, die Nase, die Augen, die Hände, die Haut, die Ohren, bekommen wir Informationen und erfahren wir die Welt.

Und so ertasten wir uns Schritt für Schritt die Welt.

Wenn man als Kind, so wie ich, junge und/oder verspielte und/oder neugierige und/oder fördernde Eltern hat, dann lassen die ihr Kind machen und stoppen es sowenig wie möglich in seinem Drang, die Welt zu entdecken, sich zu erleben und sich zu erfahren.

Dieses Glück hatte ich: Meine Eltern liessen mich machen. Und so legte ich überall Spuren: Mit der roten Tomatensosse auf dem Esstisch. Mit Pipi im Schnee. Mit der Hand im Dreck.

Am liebsten baute ich, las ich, hörte ich Musik, tanzte ich, spielte ich Fussball, fuhr ich Rad oder zeichnete ich. Einen Fernseher hatten wir nicht, Computer gab es 1971 noch wenige, aber die Wohnung war voll mit Vinyl-Schallplatten und Büchern. Und draussen war ein Garten, ein Baum und ein Sandhaufen

So baute ich Burgen und Berge im Sand, grub Tunnels und erschuf mit der Giesskanne Seen und Meere. Ich baute alles nach, was ich sah. Und ich zeichnete alles, was mir wichtig war: Meinen Hund, meine Brüder, meine Eltern, meine Familie, Tiere, Bäume, die Sonne, das Meer, Buchstaben, Zahlen, Striche, Blätter, Pilze, Raben, Elefanten, Tiger, Walfische, Häuser, Türme, Fahrräder, Autos, Lastwagen, Schiffe, Flugzeuge, Fussball, Fussballer, Handballer, Volleyballer, Autorennfahrer, Eishockespieler, und irgendwann später dann Frauen, Frauen und Frauen. Nackt, mit Kleidern, über und untereinander, fluchend, singend, tanzend oder fussballspielend. Hauptsache Frauen.

Und wie es so ist beim Zeichnen: Als Resultat kommt immer was anderes raus, als man sich erhofft hatte, es gelingt nie ganz, nie wird es die perfekte Zeichnung. Es ist eine ewige Suche, ein ewiges Versagen, ein ewiger Kampf, ein ewiger Krampf. Nur im Rückblick, Jahre später, sieht man, dass man besser wird. Dass man zeichnen lernt.

Zeichnen ist eine schwierige Sprache, eine komplexe Sprache, eine Sprache, die viel Übung braucht. Und die Zeichnung, die man grade gemacht hat, ist immer “zu wenig”: Zu wenig gut, zu wenig deutlich, zu wenig schön, zu wenig locker, zu wenig perfekt, zu wenig realistisch, zu wenig energetisch.

Doch tatsächlich erforscht man zeichnend die Welt, indem man mit der Bewegung seiner Hände und seines Körpers und seines Geists den Stift, den Pinsel oder Seife auf dem Spiegel bewegt. Und immer “begreift” man während des Zeichnens, was man alles (noch) nicht weiss.

Als Kind zeichnet man intuitiv ein Fahrrad (in der Schweiz nennen wir es Velo). Man sieht es, man begreift es, man gibt es so wieder, wie man es sieht, und jedermann erkennt auf der Zeichnung, dass es ein Fahrrad ist.

Und dann beginnt man, Fahrräder wirklich anzugucken, zu staunen, wie ausgeklügelt das alles ist. Und so wollte ich erst Velorennfahrer (Fahrradweltmeister!), dann Fahradmechaniker und schliesslich Fahrraddesigner werden.

Und je mehr man sich in den Details der eigenen Zeichnung, des gezeichneten Objekts oder Wesens verliert, je mehr man versteht, was man versteht, desto klarer wird es, was man alles NICHT versteht. Was man (noch) nicht weiss, was man (noch) nicht gesehen, nicht beobachtet, nicht betrachtet, nicht studiert und nicht begriffen hat.

Und irgendwann erreicht man den Moment, das Alter, den Perfektionsgrad, den Zustand, in dem man kein Fahrrad mehr zeichnen kann:
Weil man sich im Kleinen, im Detail, in den Details verliert. Weil man immer mehr sieht, wie komplex die Welt ist. Weil man in der Schule und in der Wissenschaft lernt, dass man alles in seine Einzelteile zerlegen soll, um es zu studieren und zu verstehen.

Weil man versteht, dass die Realität tatsächlich so komplex ist, dass eine Zeichnung immer eine Begrenzung ist, eine Vereinfachung der Wirklichkeit, eine Reduktion der mich umgebenden Welt sein muss. Weil man die Details (noch immer) nicht so gut versteht, dass man sie (von neuem) so abstrahiert wiedergeben kann wie damals als Kind. Weil man verlernt hat, so zu sehen wie ein Kind. Weil man überfordert ist von der Wirklichkeit. Weil man sich schämt für sein Unvermögen als Zeichner.

Und es beginnt eine lebenslange Suche nach der Unbeschwertheit, die man einst als Kind hatte, nach der Lockerheit, mit der man einst gezeichnet hatte, nach dem entspannten Sein mit Zeichenstift und Papier. Man legt eine Spur auf dem Papier, ist ganz im Moment, ist ganz sich, ist glücklich. Und irgendwann begreift man, dass man nur für sich zeichnet, dass es genau um diesen Moment des Zeichnens geht, dass die Menschen, die ein Fahrrad nicht anschauen, dieses auch auf der Zeichnung nicht sehen. Dass es egal ist, wie gut die Zeichnung ist.

Und die Welt ist Atem, ist Hier und Jetzt, ist vollkommen, ist schön, ist perfekt.

Und die Zeichnung wird zur Nebensache, zur Spur, zum Resultat, das nicht die Hauptrolle spielt. Die Spur im Sand wird durch den Wind verweht. Die Zeichnung wandert in den Papierkorb, in den Stapel, in den Rahmen, ins Buch. Und ohne Betrachter existiert sie nicht. Ist sie nicht. Ist sie unbedeutend.

Die Hauptrolle spielt der Atem, das Hier und Jetzt, das Sein, das weisse Blatt Papier, das vor einem liegt: Die gegenwärtige Zeichnung, der jetzige Moment, das Erlebnis des Augenblicks, der Atemzug, das schöne Gefühl im Hier und Jetzt, das Sein, die zugewandte Anwesenheit, die Meditation, die Verbindung, das Nichts.

Dies erfährt der zeichnende, der singende, der kochende, der gehende, der schlafende, der bauende, der schreibende, der tanzende, der küssende, der im Moment seiende Mensch.

Das ist Leben. Sein. Werden, Vergehen, Neuerschaffen, Loslassen, Weitergehen. Atmen. Sein. Leben.

Wenn uns AI (Artificial Intelligence, Maschinenlernen, automatisiertes Rechnergedöns) eines lehrt oder lehren kann, dann dies: MENSCHSEIN hat nichts mit dem Produkt zu tun, nichts mit dem Ergebnis. Menschsein ist Hiersein, Anwesendsein.

Es geht um den Weg, um den Moment, um den Atem, um die Verbindung, um die Liebe. Um die Verbindung mit der Welt, mit dem Kind in sich, mit dem Partner, dem Wind, dem Meer, dem Gedanken. Um die Gedanken, die im Hier und Jetzt alles loslassen dürfen. Unbeschwert tanzen mit dem Jetzt. Atmung, die mich ganz zu mir bringt. Ich sehe mich durch meine Zeichnung, so wie ich mich durch meine Eltern, meine Partnerin oder mein Kind gesehen fühle. Ich sehe, ich lege eine Spur, ich fühle, ich bin. Dadurch überhaupt erst werde ich und bin.

Ich bin, weil ich gesehen werde. Ich bin, weil ich Spuren lege. Ich bin, weil ich mich spüre. Ich bin.

Kai Jerzö, Drenthe, 24. März 2023

Und nun die Übung für Dich:
Du hast eine Minute Zeit.
Nimm einen Zeichenstift und Papier.
Zeichne ein Fahrrad.
Schau deine Zeichnung an. Zeig deine Zeichnung.
Erzähl, was du siehst, was dir gut gelungen ist.
Welchen Herausforderungen bist du beim Zeichnen begegnet?
Hast du die Sprache des Zeichnens gelernt?
Hast du die Zeit bekommen, all die Zustände zu durchwandeln, die man durchgeht, wen man zeichnend die Welt entdeckt?
Durftest du Kritzeln, Krakeln, Spuren legen, Runde Formen und eckige Formen zeichnen?
Ist Zeichnen eine (natürliche) Sprache für Dich?

Zitieren? Ja, gerne wie folgt:
– Jerzö, Kai (2023) ‘Der Zeichner – Oder: Kai, der Zeichner’. In: Illustration.world-Blog, 2023-03-24. URL: https://illustration.world/kai_draughtsman_de/ .

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